Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Universität für angewandte Kunst Wien! Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich begrüße Sie zur Eröffnung des Angewandte Festivals 2020. Es wird ein Festival der anderen Art. Vom Corona-Virus erzwungen ein Hybrid zwischen digital und analog. Ohne Anspruch auf Perfektion. Aber mit viel Enthusiasmus. Ja. Wir ziehen das durch. Trotz aller widrigen Umstände. Und die Umstände sind widrig. „Das Virus ist eine Zumutung für die Demokratie!“ hat Angela Merkel gesagt und wieder einmal hätte man sich ähnliche Worte von Österreichischen Politiker*innen gewünscht. Das, was das Virus unserer Gesellschaft aufgezwungen hat, war und ist mehr als eine Zumutung. Es ist eine Gefahr – nicht nur für die Gesundheit, sondern auch für die Demokratie. Und für die Universitäten.
Wie alle anderen Universitäten, war die Angewandte seit März im Distanzmodus. Die physische Schließung der Universitäten hat unsere Arbeit jedoch nicht beendet, sondern in andere alternative, zumeist digitale, Räume verlegt. Lehre, Forschung, Austausch und Debatte finden statt. Das war anstrengend und es war möglich. Dass es machbar war, ist den Angehörigen der Angewandten zu verdanken: den Studentinnen und Studenten, dem Lehr- und Forschungspersonal und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Planung, Service und Verwaltung. In einer unglaublichen Kraftanstrengung haben sie alle dafür gesorgt, dass die Universität weiter aktiv bleiben konnte. 95 % unserer über 800 Lehrveranstaltungen haben stattgefunden. Anders, mit viel Improvisation, Phantasie und Kompromissbereitschaft – aber sie haben stattgefunden. Es wurden weiter Rechnungen bezahlt, die Gehälter wurden pünktlich überwiesen, niemand wurde gekündigt, in gelebter Solidarität halfen sich Menschen gegenseitig – ungeachtet ihrer formellen Arbeitsplatz-beschreibungen. Bücher wurden geschrieben, Vorträge gehalten, Prüfungen abgelegt. Semesterprojekte, Diplomarbeiten, Master- und Bachelorarbeiten wurden präsentiert. Und es waren großartige Arbeiten. Ich danke an dieser Stelle allen, die das möglich gemacht haben. Und ich gratuliere jenen, die in diesem denkwürdigen Semester ihr Studium an der Angewandten abgeschlossen haben. Die Sponsionsfeier, die festliche Gelegenheit, sich gemeinsam mit Eltern, Freund*innen, Lehrenden und Studienkolleg*innen über den erreichten Studienabschluss zu freuen – das werden wir im Herbst nachholen. Und zwar am 15. und 16. Oktober 2020.
Ja, wir werden wieder zurückkehren in die Räume der Universität, in die Werkstätten und Studios. Wir werden wieder von Angesicht zu Angesicht – ohne Bildschirm dazwischen – miteinander reden, Meinungen austauschen und Kontroversen austragen. Und das alles wird dann wichtiger und wertvoller sein als je zuvor. Darauf bereiten wir uns vor, wenn wir von der Gestaltung der Zukunft sprechen – und definitiv nicht auf ein Abdriften in die digitale Eindimensionalität. Und schon gar nicht auf eine stillschweigende Akzeptanz autoritärer Strukturen in einer fragmentierten Gesellschaft zurückgezogener, isolierter Menschen.
Denkt man an die vielen Menschen, die die Krise in ihrem Mensch-sein und in ihrer Existenz massiv bedroht, gerät der Hinweis auf die Krise als Chance sehr oft auch in die Nähe des Zynismus. Ja, die drastischen Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung des Virus waren richtig und notwendig. Aber 500.000 Arbeitslose und 1,2 Millionen Menschen in Kurzarbeit haben Angst, Angst vor einer Zukunft ohne Arbeit und ohne Chancen. Zig-Tausende Künstler*innen, die weder Arbeitslosengeld, noch Kurzarbeitsentschädigung, noch Soforthilfegelder, von denen sie leben können, erhalten haben, leben in akuter Angst. Und die im Schatten der Corona-Gesundheitskrise Fahrt aufnehmende Wirtschaftskrise wird weder auf den Arbeitsmärkten noch im Kunst- und Kultursektor die Chancen erhöhen, außer die Gesellschaft, die Politik, die gewählten Vertreter*innen in Parlament und Regierung schaffen Rahmenbedingungen, die mehr Chancen bieten und Existenzängste verringern. „Angst essen Seele auf.“ hat uns der Filmemacher Rainer Werner Fassbinder eindringlich vor Augen geführt. Lassen wir nicht zu, dass wir aufgefressen werden.
Ja, eine Krise bedeutet Veränderung. Das kann auch eine Veränderung zum Positiven sein. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass es in der österreichischen Politik möglich ist, angesichts großer Herausforderungen Mut zu zeigen. Noch wenige Monate bevor die Corona-Krise unter dem Motto „Koste es was es wolle!“ bekämpft wurde, haben dieselben Politiker*innen erklärt, dass wir uns einen entschlossenen Kampf gegen die Klimakrise nicht leisten können. Schon gar nicht im Alleingang, sondern nur im globalen Gleichklang aller Staaten. Kann man diesen Mut zur positiven Veränderung mitnehmen und übertragen auf andere Bereiche, die dringend positive Veränderung brauchen? Auf die prekäre Situation vieler Künstlerinnen und Künstler. Auf die gesellschaftliche Rolle der Kunst in ihrer gesamten Breite und Vielfalt. Auf die notwendige Neudefinition des Begriffs der menschlichen Arbeit in Zeiten fortschreitender Automatisierung. Auf das System der Pflege angesichts einer alternden Gesellschaft. Auf die Universitäten, die immer mehr geprägt sind von Quantifizierung und Fragmentierung, obwohl die Komplexität der globalen Herausforderungen die Fähigkeit zum Erfassen von Zusammenhängen und Wechselwirkungen erfordern würde. Können wir den Mut zu notwendigen und sozial verträglichen Veränderungen mitnehmen? Kann die gesamte Gesellschaft von der Krise gewinnen oder wird es nur Krisengewinnler*innen mit Partikularinteressen geben?
Viele, die jetzt von der Krise als Chance reden, haben leider ein Bild von der Zukunft vor Augen, dem es zu widersprechen gilt. Ein Bild, in dem zivilgesellschaftliche Initiativen inexistent oder zumindest unerwünscht sind. Ein Bild von der reinigenden Kraft des Kapitalismus, der die Schwachen zum Opfer fallen. Ein Bild von einer digital gesteuerten Gesellschaft, in dem Grundelemente der liberalen Demokratie verzichtbar oder gar störend sind. Ein Bild von digitalisierten Universitäten, die auf effizienten und billigen Wissenserwerb getrimmt sind. Ja oder nein. Richtig oder falsch. Fragen beantworten aber keine Fragen stellen. Hinterfragen oder gar Infrage stellen ist nicht erwünscht. Es stört die Effizienz des Wissenserwerbs, der auf die Akquirierung von Fakten reduziert ist.
„Die Zukunft der Universität ist online. Und sie ist billiger.“ Das hört und liest man jetzt immer öfter. Auch in Österreich. Digitale Lehrveranstaltungen. Digitale Prüfungen. Digitale Auslandssemester. Vielleicht bekommt jede/r Studierende in Zukunft einen Laptop. Wie jetzt einige Schüler*innen. Damit die durchdigitalisierte politik-sterile Universität reibungslos funktionieren kann.
Bildung reduziert auf 1 und 0. Dass die Welt so weder funktioniert noch erklärt werden kann, wird aus Effizienzgründen verdrängt. Das Universum ist nicht digital aufgebaut. Weder eine Gesellschaft noch ein Mensch lebt nach dem Prinzip 1 oder 0. Wenn schon Mechanik, dann eher noch die Quantenmechanik. Unschärfe, Ungewissheit, Mehrdeutigkeit, Vielschichtigkeit, Mehrdimensionalität, Non-Linearität. Ja, das sind auch Parameter, die in der Kunst eine zentrale Rolle spielen.
Künstler*innen können mit ihren Werken, eine Antithese zur Logik der Linearität erzeugen. „All art is useful, yes, but the usefulness we are talking about is the immersion of art directly into society with all our resources.” schreibt die Künstlerin Tania Bruguera in ihrem Manifest Useful Art. Ja, wir werden auch daran arbeiten müssen, Kunst in die Mitte der Gesellschaft zu holen. Das ist nicht bloß eine Frage, WO Kunst stattfindet, sondern auch WIE. Es geht nicht nur darum die Orte der Kunst zu erweitern, sondern auch die Formate.
„We have to enter people’s houses, people’s lives, this is where useful art is.“ Brugueras Useful art hat nichts mit banalem Utilitarismus zu tun.
Im Spanischen Original zeigt der Begriff „Arte Util“ in eine andere – gestaltende – Richtung. Denn das Wort „Util“ ist im Spanischen auch ein Substantiv mit der Bedeutung „Werkzeug“. Die Kunst als Werkzeug zur Gestaltung der Gesellschaft. Das mag anmaßend und hypertroph klingen, ist aber eine zivilisatorische Notwendigkeit.
Menschen, die sich mit Kunst auseinandersetzen, Menschen, die künstlerische Strategien innerhalb oder außerhalb des Systems Kunst einsetzen können, denen gehört die Zukunft. Weil sie in der Lage sind, eingefahrene, eindimensionale, lineare Denk- und Handlungsmuster zu durchbrechen. Agieren „Out of the Box“. Das ist in Zeiten wie diesen dringend notwendig. Notwendig im ursprünglichen Sinn des Wortes – angesichts von Krisen, Klimawandel und technologischen Revolutionen.
Aber dazu brauchen wir Universitäten, für die das Fragen und Hinterfragen, das Abwägen und Relativieren, der Diskurs und der Widerspruch unverzichtbare, ja eigentlich die wichtigsten Elemente einer Universität sind. Dazu brauchen wir Universitäten, die sich nicht im Wettlauf um das Erreichen quantitativer Indikatoren erschöpfen. Inhaltlich erschöpfen im wahrsten Sinn des Wortes. Dazu brauchen wir Universitäten, die mindestens so intensiv an ihrer Effektivität im Sinne gesellschaftlicher Wirksamkeit arbeiten, wie an ihrer quantitativ messbaren, schein-objektiven Effizienz. Dazu brauchen wir Universitäten, die in der Krise eine Aufforderung zum Widerspruch gegen Zynismus, zum Widerspruch gegen digitale Verkürzungs- und Einsparungsideen und zum Widerspruch gegen demokratiegefährdende Tendenzen sehen. Dazu brauchen wir Universitäten, die Bildung als Instrument der Aufklärung verstehen, Universitäten, die daran arbeiten, dass in Zukunft möglichst viele Menschen Veränderung aktiv mitgestalten können statt erleiden zu müssen.
Dazu brauchen wir Universitäten wie die Angewandte.
Ich danke Ihnen.
Und ich wünsche Ihnen eine erholsamen, Kraft spendenden Sommer!
Im Anschluss spricht Eva Kernbauer mit Tania Bruguera, jener Künstlerin, die es nicht als Anmaßung sieht, mit den Mitteln der Kunst an der Gestaltung der Gesellschaft teilzuhaben, sondern als Auftrag und vielleicht sogar so wie ich als zivilisatorische Notwendigkeit.
Gerald Bast, Rektor der Universität für angewandte Kunst Wien